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Spicken, so viel man will! *** Gedanken zu Open Book Prüfungen

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Zum Hintergrund und zum Sachstand

Nach einem Jahr Corona-Beschränkungen sind Präsenzunterricht und Präsenzprüfungen nahezu ausgeschlossen. Online-Unterrichte sind in Schulen, der Berufsausbildung und der Weiterbildung zum neuen Standard geworden. Online-Veranstaltungen haben sich in der Weiterbildung recht ordentlich etabliert. Die Erfahrungen mit dem Distanzlernen sind durchweg gut.

Früher galt, es wird gelehrt, es wird gelernt und es wird geprüft, was gelernt wurde. Diese einfache Trilogie des Lehrens und Lernens entsprach dem Verständnis des „pädagogischen Gefälles“, das den Lehrenden als Wissenden und den Lernenden als Unwissenden einstufte. Aufgabe des Lehrens und Lernens war der Abbau des pädagogischen Gefälles durch lernende Emanzipation des Lernenden. Aus Unwissenden sollten über den Lernvorgang Wissende werden. In Prüfungen wurde repetiert, was gelernt wurde, welchen Lernfortschritt der Lernende erreicht hat.

Nun gilt es, die Prüfungen in den Schulen, Hochschulen und der beruflichen Aus- und Weiterbildung an neue Onlineformate des Lehrens und Lernens anzupassen. Wie kann der Lernfortschritt geprüft werden, wenn die unmittelbare Aufsicht über die Prüflinge Corona-bedingt nicht möglich ist? Die Diskussion ist in vollem Gange. Bisher gefunden wurde schon einmal ein neuer Begriff: „Open Book Examination“. Was verbirgt sich dahinter?

 

Definition Open Book Examination

„An open book examination” is something where examinees are allowed to consult their class notes, textbooks, and other approved material while answering questions. This practice is quite common in law examinations but uncommon in other subjects. Those who are used to routine examinations are puzzled by this idea. But it is ideal for teaching programs that primarily aim at developing the skills of critical and creative thinking“ Source: https://www.eoneducation.com/open-book-vs-closed-book-exams/index.html.

 

Man kann sagen, dass – „wohl aus der Not geboren“ – eine komplett neue, inverse Prüfungsideologie entsteht. Galt früher „Spicken streng verboten!“ so gilt künftig „Spicken so viel man will!“ Es ist zu fragen, ob das funktionieren kann, wen diese Prüfungspraxis begünstigt und welche Rückwirkung „Open Book Examinations“ auf die Lehr- und Lernarrangements haben muss.

 

Closed Book Examinations versus Open Book Examinations

„Closed Book Examinations“ sind Präsenz- oder Online-Prüfungen, die jegliche Hilfsmittel bei Prüfungen untersagen. In Präsenzprüfungen werden die Prüflinge vom Prüfenden oder von Prüfungsausschüssen unmittelbar überwacht. „Spicken verboten!“ Die Prüfungsordnungen bestimmen, dass derjenige, der spickt, von der Prüfung ausgeschlossen wird. Bei Täuschungsversuchen gilt die Prüfung als nicht bestanden. Bei Online-Prüfungen übernehmen sog. „Safe-Examination Browsers“ die Aufsicht über die Prüflinge. Sperr-Algorithmen verwehren den Zugang zu Online-Quellen. Systemfunktionen werden gesperrt, Programme, Dateien etc. können während der Prüfung nicht geöffnet werden.[1] Closed Book Examinations sollen diejenigen, die den Prüfungsstoff fleißig gelernt haben von denen trennen, die nicht (für die Prüfung) gelernt haben. Wurden Fakten gelehrt, dann sind Fakten zu lernen und in der Prüfung wiederzugeben. Das Prüfungsdesign klappert die Kapitel des Lehrstoffes ab und stellt Erinnerungsfragen zu den vorgetragenen Fakten. Closed Book Examinations ähneln dem Prüfingenieur, der auf die Nutzung der Gebrauchsanweisung verzichtet und sich nur auf sein ‚Gedächtnis verläßt, wenn er ein System auf Fehler untersucht.

„Open Book Examinations“ erlauben den Prüflingen während der Prüfung, gewissermaßen „ex operandum“, die Nutzung aller methodischen, inhaltlichen und organisatorischen Hilfen, die sich die Prüflinge online und offline besorgen können. Bücher, Skripte, eigene Aufzeichnungen aus den Lehrveranstaltungen, Dateien zu den relevanten Themen, die sie sich angelegt haben, können während der Prüfung uneingeschränkt genutzt werden. Ob Hilfen genutzt werden, wird nicht kontrolliert. Elektronische Sperren gibt es nicht, so dass alle Internet-Quellen zusätzlich offenstehen. Die Möglichkeit, während einer Klausur alle Quellen unbegrenzt nutzen zu können, klingt für Studierende verlockend. Für traditionelle Prüfer mag diese liberale Prüfungsform eine Horrorvorstellung sein. Die Brauchbarkeit sollte also geprüft werden.

Brauchbarkeit von Open Book Examinations

Weil das Design von Open Book Examinations davon ausgeht, dass man Fakten nachlesen oder im Internet nachschlagen kann, sind Open Book Examinations für die Abfrage von Fakten weniger gut geeignet als dies zunächst scheinen mag. Prüflinge, die einen hohen Anteil der Prüfungszeit mit der Faktensuche in Unterlagen, Nachschlagewerken und im Internet ver(sch)wenden, werden keine guten Noten erreichen. Für Prüflinge, die nicht gelernt haben, Themen zu problematisieren, sind Open Book Examinations ein Danaergeschenk. Die eröffneten Nutzungsmöglichkeiten von Unterlagen erweisen sich als zeitintensive Suche mit ungewissem Ausgang. Die Suche in den Unterlagen verhindert das Nachdenken über die gestellte Prüfungsfrage. Prüfling sind überrascht, dass sie Am Ende mit leeren Händen dastehen.

Open Book Examinations sollten auf die Überprüfung der Fähigkeit abzielen, mit dem erworbenen Wissen Probleme in unterschiedlichen Kontexten lösen zu können. Open Book Examinations sollten die Transferfähigkeit überprüfen, nicht die Repetitionsfähigkeit. Wenn diese Transferfähigkeit von Wissen in konkrete Kontexte überprüft werden soll, dann ist es unabdingbare Voraussetzung derartiger Prüfungen, dass problematisierend gelehrt und gelernt wurde. In Unterricht und Unterweisung müssen Inhalte vermittelt und diese mit konkreten Problemstellungen gekoppelt werden. Exemplarisches Lernen, verstanden als aktive Auseinandersetzung des Lernenden mit den Lerninhalten verfolgt zwei Ziele. Erstens wird der Lernstoff gelernt. Zweitens werden Anwendungen vollzogen, deren Grundstruktur auf andere Lernsituationen in unterschiedlichen Handlungsfeldern angewendet werden kann. Mit exemplarischem Lernen üben die Lernenden sowohl die Anwendung erlernter Regeln auf den Einzelfall als auch die Übertragung von Gesetzmäßigkeiten, Regeln, Methoden auf andere Lernzusammenhänge. Exemplarisches Lernen ist Voraussetzung problematisierender Prüfungen.

Die Lehr- und Lernökonomie betont, dass im Lernprozess Lehrende, Lernende und der Lernstoff zusammenwirken. Die Lehre zielt darauf, dass der Lernende am Ende des Lehr-Lern-Verhältnisses und einer nachfolgenden Bewältigungsphase die Grundlagen und die Anwendung des Lernstoffes erlernt hat.  Lernen ist doppelt erfolgreich, wenn die Fakten gelernt, die Zusammenhänge erkannt, die Anwendung gelungen ist. Lernen ist dann ökonomisch erfolgreich, wenn der Lernertrag größer ist als der Lernaufwand.

Lernen bedarf der Auswahl des Lerngegenstandes nach Zielsetzung, Art, Schwierigkeitsgrad und Passung zu den Lernvoraussetzungen der Lernenden. Ohne Relevanz des Lerngegenstandes ist keine Motivation für das Lernen zu erwarten. Ohne Relevanz des zu Erlernenden für die Lebensbewältigung macht Lernen keinen Spaß. „Non scholé sed vité discimus“ gilt für transferorientiertes Lehren und Lernen. Werden Fakten für Prüfungen gelehrt und gelernt, dann lautet die Devise umgekehrt „Non vitae sed scholae discimus!“

Lernen knüpft am vorhandenen Wissen und Können der Lernenden an. Egon Reinhardt nennt dieses vorhandene Wissen und Können „Bodensatz allgemeiner Befähigung“[2]  Heute nennen wir diesen Befähigungsfundus „Good Slack“.[3]

„Good Slack sind Befähigungsreserven, die als personale Überschuss-Befähigung in nachfolgenden Lernvorgängen und Arbeitssituationen problemlösend eingesetzt werden können“.

Befähigungsreserven spielen für das Erlernen von Fakten und deren Wiedergabe in Prüfungen keine große Rolle. Befähigungsreserven werden dagegen in transferorientiertem, problematisierendem Lernen eingesetzt, um kontextgebundene Aufgaben mit der Kombination aus vorausgegangenem Lernen, der Nutzung situationsgerechter Handlungshilfen und neuem Lernen bewältigen zu können. In der Pädagogik wird diese Befähigung Handlungskompetenz genannt. Good Slack oder Überschussbefähigung erwächst aus problematisierendem Lernen.

 

Open-Book-Reproduktionsprüfungen

Bleibt Lernen eng auf die Fakten eines Themas beschränkt, dann fehlen die Verknüpfungen, die eine Nutzung des Gelernten in anderen Verwendungen begünstigt, die Behaltenswirksamkeit wird eingeschränkt, weil keine „Eselsbrücken“ zu anderen Problemlösungen entstehen.  Diese Beschränkung des Lehr-Lernarrangements auf enge Faktenführung verlangt Prüfungen, die genau so eng geführt sind wie das Lernen.  Überprüft werden kann dann nur, was vorgetragen und gelernt wurde. Reproduzierendes Lernen verlangt reproduktionsbegrenzte Prüfungen.

Derartiges eindimensionales Lehren und Lernen verlangt, dass den Prüflingen eine themabegrenzte Auswahl an Unterlagen zur Verfügung gestellt wird, die es erlaubt, gewissermaßen „mit der Nase auf die Fakten gestoßen zu werden“.  Die dann aufgefundenen Fakten sind lediglich auf die Prüfungsbögen zu übertragen. Prüfungsfragen auf diesem Niveau lauten „Nennen Sie die fünf Stufen der Maslow-Pyramide!“ Der Lernerfolg hängt davon ab, ob der Prüfling weiß, wo er die Pyramide in seinen Unterlagen findet. Ob der Prüfling, z. B. eine Führungsnachwuchskraft, mit den Maslow-Stufen in seinem Führungsalltag Probleme lösen kann, wird nicht überprüft.

Die Brauchbarkeit von Open Book Examinations zur Überprüfung der Reproduzierbarkeit und Auffindbarkeit von Informationen, ist sicherlich gegeben. Derartige Prüfungen sind aber wenig sinnvoll. Überprüfung der „Wissens-Reproduktion-Fähigkeit“, eine eng begrenzte „Enzyklopädie-Befähigung“, taugen für anspruchsvolle Bildung in Schule, Hochschule, Universität und betrieblicher Bildung wenig. Das erworbene Wissen und Können kann nicht für die Lösung konkreter Probleme in diversen Handlungszusammenhängen genutzt werden.

 

Open-Book-Reproduktionsprüfungen

folgen dem Grundsatz

„Finden statt Denken!“

 

Open-Book-Transferprüfungen

Die Lernökonomie sagt, dass Lernen umso aufwandsgünstiger ist, je mehr übertragungsfähige allgemeine Lernerträge aus früherem Lernen in gegenwärtiges Lernen eingebracht werden kann.[4]  Werden im Lernprozess Slack-Potentiale als „vorgetane Arbeit“ aktiviert, dann wird schneller gelernt und der Lernertrag ist größer. Prüfungen, die als Open-Book-Transferprüfungen durchgeführt werden, zielen darauf ab, dass der Lernende in der Prüfung nachweist, dass er Lernerträge in multiple Problemlösungen einzubringen versteht. Die Überprüfung von Transferbefähigung ist in Open-Transfer-Prüfungen problemlos möglich. Bei Transferprüfungen ist es weitgehend unerheblich, ob jemand Unterlagen nutzt. Die Prüfungsleistung besteht in der konkreten Anwendung des Wissens und Könnens auf die in der Prüfungsfrage beschriebene konkrete Problemsituation. Hier helfen Bücher, Skripte, Mitschriften wenig. Transferorientierte Prüfungsfragen sind mit „ausgelagerten Wissenskonserven“ deshalb nicht zu lösen, weil transferbezogene Prüfungsfragen einzigartig sind, folglich Unikatcharakter besitzen. Abgefragt wird die Befähigung, Wissensbestände für die Lösung einer ganz spezifischen, gewissermaßen einmaligen Situation, zu mobilisieren.

Transferprüfungen begünstigen Prüflinge, die nicht „konsumgenügsam“ in Lernveranstaltungen alles sauber mitschreiben und ablegen, sondern die bereits beim Aufnehmen von Sachverhalten Verbindungen knüpfen und „Praxisschleifen des Denkens“ mitlaufen lassen. „Fait L’liasson“ ist die Devise des transferorientierten Lerners.

 

Open-Book-Transferprüfungen

folgen dem Grundsatz

„Denken statt Finden!“

 

Formen problematisierender Prüfungen sind Fallstudienaufgaben und Aufgaben mit anspruchsvollen Lösungswegen, wie sie z. B. die Umwandlung von Geschäftsvorfällen in Buchungssätze, die Einbuchung in das richtige Konto und das richtige Gegenkonto, der Abschluss der Konten, die Aufstellung der Gewinn- und Verlustrechnung und der Abschlussbilanz darstellen.

 

Take Home Examinations

Take Home Examinations sind eine Variante der Open-Book-Prüfungen, bei denen ebenfalls die Nutzung von Büchern, Mitschriften etc. erlaubt ist. Kennzeichen von Take Home Examinations sind Transferfragen, die keine eineindeutige Wenn-Dann-Lösung, sondern komplexe Problemlösungen erfordern. Fallanalysen, Summaries, Pro- und Contra-Abwägungen, sind typische Aufgabenstellungen von Take Home Examinations. Take Home Examinations unterscheiden sich hinsichtlich der Bearbeitungszeit von „punktuellen“ Online-Prüfungen. Die Aufgaben werden gestellt und ein Time-Slot wird verabredet. Bis zur Schließung des Zeitfensters sind die schriftlichen Ausarbeitungen elektronisch einzureichen. Die Nutzung von Literatur etc. ist nicht untersagt. Im Gegenteil, wie bei klassischen Hausarbeiten wird die Nutzung relevanter Quellen in die Bewertung einbezogen. Take Home Examinations entsprechen im Wesentlichen den Anforderungen an klassische Hausarbeiten.

 

Multiple Choice Fragen

Multiple-Choice Fragen sind „Zwitterprüfungen“, weil diese sowohl als Closed Book Examinations als auch als Open Book Examinations nutzbar sind. Wurde im Unterricht eine endliche Zahl von MC-Prüfungen „gepaukt“, dann reicht es in der Prüfung, das Gelernte zu reproduzieren und die Kreuze richtig zu setzen. „Wiedererkennen“ lautet die Taxonomiestufe dieses Lernens. Überträgt der Prüfende den besprochenen Lernstoff in MC-Fragen, die differenzierte Überlegungen, problematisierendes Verstehen erfordern, dann muss in Zusammenhängen gedacht werden. Es ist dann nahezu unerheblich, ob Berge von Büchern und Dokumenten auf dem Pult des Prüflings liegen. „Analysieren“ heißt die Taxonomiestufe problematisierender MC-Fragen.  Entweder enttarnt der Prüfling die Antwortvorgaben als Wege und Irrwege und entscheidet begründet, wo er sein Kreuz setzt, oder er ist lediglich in der Lage, abgespeicherte Schablonen aus dem Gedächtnis abzurufen. Dann setzt er seine Kreuze nach „Trial and Error“.

Wurde in Unterricht und Unterweisung keine Einübung in Transferleistungen geübt, dann entsteht keine Transferbefähigung, MC-Fragen mit Transferanspruch können in Open-Book Examinations guten Gewissens nur eingesetzt werden, wenn die Transferbefähigung ausreicht, den Hintergrund der einzelnen Antwortvorgaben zu reflektieren. Das gilt für schriftlich und mündliche Prüfungen.

 

Infrastruktur für Online-Prüfungen

Online-Prüfungen können dezentral, gewissermaßen von überall aus, und zentral an einem Prüfungsort durchgeführt werden. Voraussetzung einer reibungslosen und fairen Prüfung ist die Ausstattung mit PC, Tablet oder Laptop, Webcam, Online-Zugang und natürlich die „digital Readyness“ der Prüflinge, die technische Ausstattung problemlos nutzen zu können. Viele Hochschulen und Universitäten haben bereits verbindliche Vorgaben für die Durchführung von Online-Prüfungen erlassen. Dabei sind neben den technischen Voraussetzungen auch datenschutzrechtliche Aspekte nach DSGVO zu beachten. Von den Prüflingen werden durchweg „Eigenständigkeitserklärungen“ verlangt, wie sie bei schriftlichen Hausarbeiten bereits langjährige Praxis sind.

Der im Unterricht behandelte Stoff und die in Unterricht und Unterweisung eingesetzten Lehr- und Lernformen entscheiden über die Tauglichkeit von Open Book Examinations. „Bulimie-Lernen“ in „Gänse-Stopf-Unterricht und -Unterweisung“ führt allenfalls zu Wissensablagerungen im Kurzzeitgedächtnis. In Prüfungen werden die Stoffberge, die man in sich hineingewürgt hat oder die in einen hineingestopft wurden, dann wieder freigelegt, der Prüfling übergibt sich, indem er die Stoffnahrung in Prüfungen wieder freigibt.

Transferorientiertes Lehren und Lernen folgt einer klugen didaktischen Auswahl von Lerninhalten. Die Lerninhalte werden aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet, Pro und Contra werden abgewogen, Übertragungen in multiple Lebenszusammenhänge werden besprochen. Anwendungsbeispiele weiten den Lernhorizont. Die Anhaftung des neuen Lernens an vorangegangenem findet statt. „Fait l’Liasson“, im Verständnis von „stets in Zusammenhängen denken und lernen“, ist die beste Lehr- und Lernökonomie!

Wie bei allen Veränderungen werden auch Open Bool Examinations Gewinner und Verlierer hervorbringen. Gewinnen werden diejenigen Lerner, die im Vorfeld der Prüfung Ordnung in ihren Unterlagen haben, die sich mit Merkzetteln, Zusammenfassungen, einem Glossar und ähnlichen Ordnungsmitteln „Zeit kaufen“, die sie dann in der Klausur auf die Beantwortung der Prüfungsfragen und nicht auf eine gehetzte Suche nach Informationen verwenden können. Verlierer werden diejenigen sein, die nicht gelernt haben, Sachverhalte zu problematisieren und die keine ausreichende Variations- und Transferbefähigung erworben haben. Unterlagen sind geronnene, statische Informationsquellen, die zur Beantwortung von Transferfragen lediglich Denkimpulse liefern können.

Die Distanzerfordernisse der Corona-Pandemie sind eine notwendige, aber keine hinreichende Begründung für Open Book Examinations. Wenn diese in der Zukunft Bestand haben sollen, dann sind die pädagogischen Grundlagen des Lehrens und des Lernens auf ihre Tauglichkeit für diese Form der Überprüfung von Lernfortschritten zu prüfen. „Unikatprüfungen“ mit der Anforderung an eine ausgeprägte Variations- und Transferbefähigung kann gegenwärtig als nicht ausreichend gegeben eingestuft werden. Erste Beobachtungen zeigen, dass Studierende Online-Prüfungen nach Möglichkeit zu umgehen versuchen. Sie verschieben Klausuren und Abschlussprüfungen in der Hoffnung, bald wieder Prüfungen in Präsenz absolvieren zu können. Studierende empfinden Online-Prüfungen als schwierig, sind in der Selbst-Organisation der Prüfungen häufig überfordert. Viele Rückmeldungen von Studierenden zu Online-Prüfungen – mit oder ohne open Books – sind negativ bis ablehnend.

„Interessant wird jetzt sein, wie sich dies auf die Prüfungsergebnisse und Noten der ‚konsumgenügsamen Lerner‘ sowie der ‚transferorientierten Lerner‘ auswirken wird. Aufgefallen sind wohl aber schon viele Wiederholklausuren, viele nicht angetrete Prüfungen. Und mehr Studienabbrecher direkt nach Studienbeginn.“[5](Mira Cronauer-Kleibl)

„Strukturell gibt es noch starke Unterschiede (i. B. in staatlichen Lerneinrichtungen) im Digitalisierungsgrad sowie in der digitalen Befähigung des Personals. Im Besonderen die digitale Befähigung von Lehrpersonal kann digitale Prüfungsformen konterkarieren und ist daher stets mitzudenken bzw. zu prüfen.“ (Kris Roggan)

„Sind für alle Prüflinge gleiche (technische) Voraussetzungen gegeben? (Tablet, Laptop, Tippgeschwindigkeit…)  Wie kann die Aufsicht sichergestellt werden, wenn nicht an einem zentralen Ort geprüft wird? Wie geübt sind die Prüflinge im Umgang mit Sonderzeichen, z.B. Formeln, Grafiken, Tabellen? Wie werden Zeichnungen angefertigt? Wo kommen Nebenrechnungen hin?“ (Stefanie Lenz)

Es ist unbedingt darauf zu achten, dass bei Online-Prüfungen das Fachwissen und nicht die „Digital Readyness“ im Vordergrund der Prüfungen steht. Dabei muss gegenwärtig sowohl bei den Lehrenden als auch bei den Lernenden von großen Unterschieden in der „‘Digital Readyness“ ausgegangen werden. Schulungen der Lehrenden und Einweisung der Lernenden in die neuen Prüfungsformen sind notwendig für Akzeptanz, Prüfungsgerechtigkeit und das Gelingen von online durchgeführten Open Book Prüfungen.

Ergo: Open Book Examinations sind durchaus kein Teufelszeug, das traditionellen Lehrern und Trainern graue Haare wachsen lassen muss.

Sollen Open Book Examinations Sinn machen, müssen Lehren und Lernen gründlich durchdacht, die Akteure sorgfältig vorbereitet, die didaktische Auswahl neu gedacht, das Zeitmanagement überprüft und die ‚Chancengerechtigkeit sichergestellt werden.

 

Problematisierendes Lehren und Lernen ist ein Markenzeichen von eo ipso!

Corona hat uns in dieser Art zu lehren, zu lernen und zu prüfen noch einmal bestärkt!

 


[1] Safe Examination Browser, entwickelt von der   ETH Zürich und Educational Development and Technology (LET) ermöglicht es, jeden Computer vorübergehend in eine sichere Arbeitsstation verwandeln, der Zugriff auf Ressourcen wie Systemfunktionen, andere Websites und Anwendungen kann verhindert werden, dass nicht autorisierte Ressourcen während einer Prüfung verwendet werden. Quelle: „Safe-examination-browser in der Weiterbildung

 

[2] Reinhardt, E.: Unterrichtsökonomie. Ökonomische Aspekte des Lehrens und Lernens. Darmstadt 1974, S. 64.

[3] Vgl. Becker, M.: Strategische Potentialreserven nutzen. No Slack, Bad Slack, Good Slack. 2. Auflage Halle 2008.

[4] Vgl. Reinhardt, E., a.a.O., S. 64.

[5] Der Autor dankt den Studierenden des von der eo ipso personal- und organisationsberatung GmbH durchgeführten IHK-Masterstudiengangs „Geprüfter Berufspädagoge, geprüfter PE-Referent“ für diese und weitere wertvolle Anregungen zu diesem Beitrag. Dank gilt im besonderen Mira Cronauer-Kleibl, Stefanie Lenz, Kris Roggan und Volker Spielmann. Zitate: M. Cronauer-Kleibl, Kris Rogan für ihre kritische Durchsicht.

 

 

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